Donnerstag, August 31, 2006

Gera

Hallo Zusammen,

bin gerade in Gera im Zentrum angekommen. Heute ging ich von Hohenleuben bis hierher. Gestern wanderte ich von Schleiz bis ebendort. Landschaftlich komme ich wieder in eine etwas angenehmere Zone, das Wetter wird besser und meine Motivationskurve wurde von einem unabhängigen Finanzinstitut zum Kauf empfohlen. Gestern musste ich einen ziemlich kühlen Südwestwind aushalten. Damit mein Nacken nicht gefror, wanderte ich mit Kapuze. Wird langsam Zeit die Wintersachen rauszuholen. Die Gegend zwischen Hof und Gera ist doch hübscher als ich zunächst mit meinen demotivierten Sinnen empfunden habe. Man geht meistens auf Hochebenen. Zwischendurch ins Tal runter, auf der anderen Seite wieder hoch. Auf den Ebenen hat es riesige Felder. Der Weizen wurde mittlerweile überall geschnitten, das Stroh leider teilweise verregnet.
Ich konnte Gestern auf der B94 mutterseelenallein wandern, da diese Strasse alle 5km eine Baustelle vorzuweisen hat. Der grosse Verkehr wurde also umgeleitet, und ich hatte teilweise drei Spuren zum Wandern zur Verfügung.
In Hohenleuben angekommen, durfte ich zunächst ein paar heruntergekommene ehemalige Industriegebäude bewundern, dann kam ich in den Genuss einer alten Kirche, die sich die Gunst des Betrachters mit dem Knast im Hintergrund teilen musste. Nachdem im Freistaat Thüringen vor ca. drei Tagen, zwei Schwerverbrecher ausgebrochen waren, war es für mich eine Selbstverständlichkeit, dass die Leute in so einem Ort nicht gerade leutselig auf mich zu kamen. Trotzdem waren die Leute so nett, mir die einzige Pension im Dorf zu zeigen, wo ich ein Doppelzimmer mit Frühstück für zwanzig Euro bekam (Preis/Leistungsrekord). Die Landlady war so freundlich für mich im einzigen Restaurant anzurufen, ob ich trotz Ruhetag vielleicht etwas zu essen bekäme. Glücklicherweise fand dort gerade ein Kindergeburtstag statt, so dass die Besitzerfamilie mir ein nettes Steak mit Kartoffeln zubereitete. Offenbar froh um die kleine Abwechslung unterhielten sich die Leute mit mir. Vor allem mit dem Wirt habe ich etwas länger gesprochen und damit auch etwas tiefer ins Glas geschaut, als vorgesehen. Er war zur Zeit der Wende 22 Jahre alt. Erstaunlicherweise kam er nicht auf die Idee auch nur ein Wort der Klage über die Probleme Deutschlands loszuwerden. Von klagen oder jammern keine Spur. Auch die anderen Menschen erzählten mir viel lieber, wie sie letztes Jahr im August knapp dem Hochwasser in Luzern entkommen waren. Auf den Unterschied zwischen DDR und dem vereinigten Deutschland angesprochen, meinte der Wirt lapidar: Auch wenn wir nun könnten, es fährt trotzdem niemand auf die Malediven. Er sah die DDR auch nicht so eng, wie man das bei uns im Geschichtsunterricht zu hören kriegt. Er fand, dass man damals immer genug zu essen hatte, was heute nicht anders sei. Ausserdem habe man damals beim Einkaufen noch ein Erfolgserlebnis haben können. Zum Beispiel wenn man wusste wann und wo die nächste Jeanslieferung hinkam, und man einer der glücklichen war, die eine Hose ergattern konnten, bevor die Lieferung ausverkauft war. Heute gehe man nur noch in den Supermarkt und nehme einfach. Auf den Charakter der Leute in Thüringen angesprochen meinte er: Schwierig. Er komme aus Sachsen und zu Beginn sei es in Thüringen schwierig mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, wenn man sie allerdings mal kenne, könne man es sehr gut mit ihnen haben. Das wäre die zweite Erklärungsvariable dafür, dass mich hier die Wanderer und Radfahrer nicht so freundlich grüssen wie noch in Bayern oder Baden-Württhemberg.
Heute ging ich also weiter bis nach Gera. Ein schönes Stück von diesem Weg konnte ich an der Weißen Elster zurücklegen. Es gibt an diesem Fluss entlang einen Radweg, den ich auch morgen wieder nehmen werde, da man daran bis Leipzig weitergehen kann. Die Weiße Elster ist zwar komplett naturbelassen, dies hat aber auch Nachteile. Beispielsweise in Form von fehlenden Kläranlagen bzw. in Form von Abwässer, die ungefiltert in den Fluss gelassen werden. Ein olfaktorischer Leckerbissen wie ich meine. Architektonische Leckerbissen durfte ich dann in den Suburbs von Gera erleben. Brachliegende Industriequartiere so weit das Auge reicht. Irgendwelche Rohre, die 50cm und mehr im Durchmesser messen, und entlang des Flusses führen. Verbotsschilder weisen daraufhin, dass es sich um die Energieversorgung von Gera handeln könnte. Aber auch diese Rohre sind wohl ein Relikt aus dem Kalten Krieg, weil sie nämlich plötzlich unterbrochen waren. An wirklich heruntergekommenen Industriebrachen hängen Plakate, die einen einladen Büro und Lagerräume zu mieten. Als Highlight bieten sich die Plattenbauten an, welche etwas erhöht liegen und zu Spitzenzeiten wohl einige tausend Leute beherbergen konnten. Kaninchenkäfigstapeln als vermuteter Architektensport zu DDR Zeiten bietet sich an. Renoviert wird aber auch ganz fleissig. So kann es durchaus sein, dass ein von Autoabgasen ganz schwarz gewordenes Gebäude ohne Unterbruch an eine Wohnsiedlung anschliesst, die mit neuen Balkonen, Fenstern und Fassaden genausogut im Trendy-Zürich liegen könnte. Es ist ein ständiges Wechselspiel von alt und neu. Im Zentrum ist allerdings praktisch alles neu. Nur die Trams erinnern irgendwie an Prag bzw. an die vorletzte Tramgeneration in Bern. Der Vergleich mit Prag ist gar nicht so dumm. Wahrscheinlich haben Prag und Gera mehr gemein als Gera und Hamburg.
So, damit habe ich wieder einmal viel erzählen können und ich hoffe, dass ich morgen oder heute Abend noch einmal ein paar Geraer Highlights zum Besten werde geben können.

Gruss aus Gera

Joel

4 Comments:

Anonymous Anonym said...

Lieber Joel
Gemütlich bin ich auf der Polstergruppe gesessen, im Radio kommen die Nachrichten ,Bootsflüchtlinge ertrunken,Hilfe für den Libanon, immer dieselben Schiksale und selber kann man nichts dazu beitragen. Aber heute war wieder einmal ein sonniger Tag ,das stellt auf und das hat mich auf eine Joggingtour geloc kt. Ich bin dann zwar nicht so fit gewesenund und habe laufend die warme sonne und die Natur genossen.Morgen gibt es wieder einen sonnigen Herbsttag und ich hoffe für dich ,dass das schöne Wetter auch in deutschland Einzug hält. In einer Woche ist ja dann die Hochzeit von Tobias und Sandra.Mit meinem selbstgenähten Sommerkleid hoffe ich auf schönes Wetter.Ich freue mich sehr da das Ganze auch ein Familienfest sein wird. Helena kann sogar das ganze Fest kommen und Robert aus der Ostschweiz ist auch zum Apero eingeladen.Schade dass du nicht teilnehmen kannst ,du würdest zuviel Zeit verlieren und aus deiner Reisewelt herausgerissen Und wieder zurückzugehen ,wäre sicher sehr komisch.Ich freue mich aufdeine nächsten Berichte und grüsse dich ganz herzlich.
DAIO

7:33 PM  
Anonymous Anonym said...

Salü jölu;)
jetz hanimi ou widermau dezue überwunge, e kommentar zschribe.. ;)
chunsch jo immer nöcher zu berlin.. hätt dänkt hesch länger *G*

no zu dim schribstiu wo jo kritik wosch;)du schribsch zimlech ähnlech wienig (ömu am afang) jetz hetsech di schribstiu scho zimlech verbesseret und wägem "hier".. i finge "hier" immer no besser als das chli komisch usdrückte "ebendort", ehrlech gseit ;)
was vilech no guet wär we chli me absätz würsch mache, z.T. ischs chli müehsam zum läse.
das chli humor dribringsch (das mitem finanzinstitut) isch geil, me devo ;D

gruess
mix

Ps: i bruche de dis wisse hömmli für as hochzit :P

8:48 PM  
Anonymous Anonym said...

Du? Deine Reise macht Lust auf mehr... Ich will auch. Zum Glück habe ich eine deutsche Freundin. ;-)

Zum Schreibstil (wenn wir schon dabei sind): Gestern schreibt man gestern.

Gruss
Der Bäschtel

9:25 PM  
Anonymous Anonym said...

Hallo Jölu
Spannend, dass du jetzt in Ostdeutsch-
land bist und genau dort einen Mann triffst, der nicht jammert. Die Folgen der immensen Auswahl in Supermarkts hierzulande sind sehr oft Abhängigkeit und Zwang. Freiheit hat meines Erachtens andere Dimensionen.

Zum Begriff der Armut, den du vor ein paar Tagen angesprochen hast: Es ist für uns, die wir nicht darunter leiden etwas theoretisch, vielleicht sogar etwas überheblich, deinen gewünschten Armutsbegriff zu brauchen. Hierzulande bedeutet Armut eben, dass jemand nicht am sozialen, kulturellen Leben wirklich teilhaben kann und zwar aus finan-
ziellen Gründen. Es gibt auch verschiedene Begriffe dazu: Z.B. Relative Armut, absolute Armut. Immer bedeutet es Unterversorgung in einem lebenswichtigen Bereich. Und wer möchte behaupten, die Mölglichkeit am sozialen Leben teilzuhaben sei nicht lebens-
wichtig? Die relative Armut nimmt Bezug zum durchschnittlichen Einkommen (Lebensstandard auch) eines Landes.

Zu deinem Schreibstil: Ich finde auch, dieser habe sich im Laufe der Reise verbessert. Und: es geht ja nicht einfach um den Stil, es geht doch darum, ob du uns LeserInnen rüberbringen kannst, was du erlebst. Manchmal wünschte ich mir, du würdest noch etwas hinhören auf das, was die Leute nicht sagen. Das ist oftmals interessanter. Sozusagen das "zwischen den Zeilen lesen". Ich dachte das vor allem dort, wo du genug hattest vom "Jammern auf hohem Niveau".

So, genug. Du näherst dich mit Riesenschritten Berlin. Vorerst kommt schon bald Leipzig. Das muss sehr schön sein.

Liebi Grüess, Andrea

10:19 PM  

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