Dienstag, September 05, 2006

Lutherstadt-Wittenberg 2

Hallo Zusammen,

ich hätte wohl besser erst nach der Besichtigung diser Stadt, einen Eintrag machen sollen. Die Lutherstadt ist nämlich aussergewöhlich schön. Die wunderschöne Alstadt mit den allesamt frisch renovierten, teilweise prunkvollen Häusern, wird von der grossen Kirche zu einem tollen Gesamtbild komplettiert. In der Mitte der Stadt findet sich eine grosse Piazza mit Strassencafés und Parkbänken. Unzählige Hotels, Pensionen und Restaurants zeugen davon, dass diese Stadt etwas Spezielles sein muss. Im Ristorante Toscana hörte ich nebst Deutsch auch Französisch und Englisch. Gut gekleidete Herren und Damen liessen sich dort Flaschenweine und grosse Platten servieren. Ich bewegte mich etwas bescheidener auf dem grossen Parkett und ass Saltimbocca alla Romana. Teuer war es auch hier nicht, gut allerdings schon. Das Internetcafé, in dem ich sitze, ist das bisher grösste, das ich auf meiner Reise angetroffen habe. Ca. zwanzig Pcs warten hier auf Onliner. Die Bedienung wird offenbar von der lokalen Biker-Hard-Rock-Fraktion gestellt. Man sagt sich Du und wird höflich bedient.
Für alle, die einmal in Berlin sein werden, kann ich diese Stadt als Tagesausflug empfehlen. Es hat zwar weder einen See, noch einen Fluss, aber die Architektur ist auf jeden Fall einen Augenschein wert.
Morgen werde ich aufgrund meiner momentanen Frustrationsintoleranz an der B2 entlang gehen. Von den schlecht signalisierten und Odyssee-artigen Radwegen habe ich nämlich seit heute genug. Das wird zwar wieder zur "Nur-ja-nicht-überfahren-werden-Tortur" aber dafür werde ich sicher sein, am Abend in einem Ort zu landen, indem es auch eine Übernachtungsmöglichkeit geben wird. Wenn man hier zu weit von der B2 entfernt ist, findet sich nämlich genau nichts. Das Nichts habe ich allerdings noch nicht entdeckt, obwohl es mich schon interessieren würde wie das aussieht. Stellt euch vor ich könnte der Welt das Nichts erklären; der Nobelpreis wäre mir sicher.
Nicht nichts ist es, wenn man ohne vernünftige Karte in der ostdeutschen Einöde unterwegs ist, und die Leute nur neugierig hinter ihren Gartenzäunen hervolugen. Kein Wunder, dass hier alle jungen in andere Länder davonrennen. Jedes Jahr sind es 68´000 allein in Sachsen. Das bringt uns schon zum nächsten Frust: Es gibt einfach keine jungen Leute hier. Und wenn, dann sind es buchstäblich nur Zurückgebliebene und Bauern. Diese ganzen Erfahrungen hier lösen bei mir genau das aus, was es wohl auch bei den anderen Jungen hier auslöst. Flucht. Weg. Fort. Irgendwohin. Nur nicht hierbleiben. Ich glaube es ist nicht übertrieben wenn ich Ostdeutschland als das grösste Altersheim Westeuropas bezeichne. Nichts gegen die Alten, aber was zuviel ist, ist zuviel. Ich glaube auch die Alten werden es nicht auf Dauer aushalten, wenn nur noch Ihresgleichen hier im Elektromobil mit 25kmh rumkurvt.
Ihr mögt meine Einschätzungen vielleicht als etwas krass empfinden, aber ich bin schon länger der Meinung, dass die Überalterung der Gesellschaft mehr Probleme als nur die sozioökonomischen Ungleichgewichte hervorrufen wird. Im Tram in Bern habe ich mir beispielsweise einmal überlegt, was wir tun werden, wenn es keine Jungen mehr haben wird, die den Alten grosszügig den Sitzplatz überlassen werden. Was passiert mit den heute Geborenen? Müssen die zukünftig akzeptieren, dass für die Partnerwahl nur noch zehn mögliche Personen infrage kommen? Das ist zwar etwas übertrieben, aber ich denke an solchen Gedankenspielen sollte man sich orientieren, wenn man abschätzen möchte, was der demografische Tropfen alles an persönlichen Problemen hervorrufen wird.
An diesen Gedanken erkenne ich, dass es nicht sosehr die Landschaft oder der Wind oder die Irrungen und Verwirrungen auf meinen Tagesetappen sind, die mich runterziehen, sondern der allgegenwärtige Verfall hier. Einmal die leeren, sich langsam ins Nichts auflösenden Gebäude, dann all die Menschen, deren Tage mehr als nur gezählt sind und dann die grosse landschaftliche Leere, durch die ein kräftiger Wind bläst, wie um mir zu sagen, dass hier alles fortgeweht wird und ich nur ein kleiner lebendiger Zwischenfall in dieser Degeneration bin.
Degeneration scheint mir ein gutes Stichwort zu sein. Heute kann man nicht mehr von der kommenden, der meinigen oder der älteren Generation sprechen, sondern nur noch von der allgemeinen Degeneration. Die Alten werden von der Zeit degeneriert, die Jungen von zahlreichen Zivilisationskrankheiten, wie Über- und Untergewicht, Psychosen, Unbildung, Zukunftslosigkeit usw. und die Kinder werden gar nicht erst gezeugt. Memento mori gilt schon längst nicht mehr und Carpe diem ist nur noch zynisch.
Sich an den eigenen Tod zu erinnern muss man nicht mehr, es reicht einmal am Tag irgendein Nachrichtenmedium zu konsumieren. Den Tag zu pflücken kann man versuchen, ist allerdings zynisch, weil man einen Tag nur geniessen kann, wenn man überzeugt davon ist, eine Zukunft zu haben. Nicht, dass ich für mich, als hoffentlich bald einmal gebildeten Menschen, keine Zukunft sähe, aber für dieses ganze, kranke Gebilde namens Demokratie, freie Marktwirtschaft, Meinungsfreiheit, Selbstverwirklichung usw. sehe ich keine Zukunft mehr. Die Politiker, Wirtschaftsführer und die Künstler, angeblich die Elite unserer Gesellschaft, zeigen uns täglich mit ihren Skandalen, Massenentlassungen und Produktionen wie Paris Hilton, dass keine menschliche Qualität mehr vorhanden ist. Auch die Elite ist degeneriert. Günter Grass, der mit seinem SS-Skandälchen sein Buch verkauft, ist nur ein Beispiel. Es geht weiter mit dem Fleischskandal in Bayern, den unaufhaltsamen Flüchtlingsströmen in Südeuropa, welche die EU schon bald mit Waffengewalt wird niederschlagen müssen, wenn sie denn das Schloss Europa davor bewahren will.
Gestern habe ich einen Artikel über eine Frau gelesen, die in einem Gefängnis täglich acht Stunden lang Kabel aufschneidet und die drei inneren Kabel schön nach Farbe auftrennt. Sie hatte der Reporterin gesagt, dass sie dieser Job glücklich mache. Allerdings hat der Gefängnisdirektor grösste Mühe noch Jobs für seine Insassen zu finden, da sein Gefängnis nicht mehr mit den Produktionskosten in Osteuropa und China mithalten kann. Dazu kann ich nur sagen. Lest doch bitte alle einmal das Buch "Brave New World" von Aldous Huxley aus dem Jahr 1932. Langsam aber sicher ist dies Realität, obwohl ich das noch vor ca. sechs Jahren nie für möglich gehalten habe. Oder anders gesagt. Fragt euch worüber ihr wirklich trauert, wenn ihr in sechs Tagen aufsteht. Ist es wirklich das Ereignis von vor fünf Jahren, oder sind es dessen Folgen?
Für mich ist es klar.

So, damit habe ich hoffentlich meine abrundtiefe Seele etwas ausschütten können und werde morgen wieder glücklich und zufrieden aufwachen. Oder um es mit einem Satz zu sagen, den ich als Zitat eines Schriftstellers vor kurzem gelesen habe:
"Die menschliche Seele ist ein Abgrund, es schaudert einen, wenn man hinuntersieht".

Alles wird gut.

Gruss

Joel

3 Comments:

Anonymous Anonym said...

Lieber Joel
Das mit der abgundtiefen Seele: Mir scheint, dass du hier etwas viel laut gedacht hast, um deinen Frust loszuwerden. Nachwie vor lese ich die Einträge gerne, wenn dann deine Notizen (Degeneration z.B.) fast allgemeingültig daherkommen, dann habe ich Mühe. Hier wäre m.E. Erachtens ein parallel dazu geführtes, persönliches Tagebuch geeigneter, so wie man eben früher nur ein persönliches Tagebuch führen konnte.
Ich habe, bevor du zu schreiben begonnen hast gedacht, es könnte zuweilen schwierig sein zu entscheiden, was nun von öffentlichem Interesse ist und was nicht. Ich denke, beim Eintrag Lutherstadt-Wittenberg 2 hast du eine Grenze überschritten, die es mir (uns) schwierig macht, zu reagieren.
Was mich freut: Die Zuversicht trotz zeitweiligen Tiefs. Machs guet.
Andrea

12:08 PM  
Anonymous Anonym said...

Hallo Joel

Nun gut, was Andrea sagt, mag wohl stimmen. Da kommt eine geballte Faust Joel Gedanken auf einem zu, direkt, persönlich, ohne Schönmalerei.
Vielleicht müssen wir ja gar nicht reagieren und kommentieren (was ich dennoch schon getan habe), sondern einfach sehen, aha der Joel der denkt. Und nicht davor zurückschrecken.
Wunderbar find ich die Beschreibung der leeren Landschaft mit dem Wind, der alles fort weht...

ist bestimmt interessant mit dir mal ein Bier trinken zu gehen. Bist eingeladen, auf ein Feierabend Bier...

alles gute
christine

2:51 PM  
Blogger berntoberlin said...

Habe noch das Zitat des Schriftstellers geändert. Es war zuerst falsch. So macht es mehr Sinn.

6:07 PM  

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